Sehnsucht
Elena spähte immer wieder nach dem Stand der Sonne, ob sie nicht endlich den Zenit überschritten hätte und es auf den Abend zuginge. Sie war so in Gedanken, daß sie sich beinahe bei den schwierigen Kunststücken mit den Stieren verletzt hätte. Endlich waren die Übungsstunden vorbei und die Mädchen durften sich zurückziehen. Elena begab sich in ihren Raum und wartete, denn es war üblich, daß sich die Mädchen nach den Übungen ausruhten und die Priesterinnen sich in der großen Halle trafen um mit den Priestern die Veranstaltungen zu besprechen. Es wurden regelmäßig große Feste auf dem Tempelgelände abgehalten, auf denen die jungen Diener und Dienerinnen des Minotaurus ihre Geschicklichkeit zur Schau stellten, um dem Publikum zu zeigen, daß sie des Gottes würdig waren. Nur die Besten würden am Ende zu den sieben Opfern gehören und in diesem Jahr würden es sieben Mädchen sein. Endlich waren die zwei Zimmerkameradinnen von Elena eingeschlafen und sie schlich sich leise aus dem Raum und den Arkadengang hinunter. Als sie durch eine kleine Pforte in der das Tempelareal umgebenden Mauer ins Freie schlüpfte, duckte sie sich gleich hinter die blumenüberwachsenen Natursteinwälle, welche die angrenzenden Obstgärten umgaben und schlich so bis zum etwas weiter entfernten Olivenhain. Kurz vor dem Ziel zögerte sie. Eine unbestimmte Furcht brachte sie beinahe dazu umzukehren und das ganze Abenteuer abzubrechen. Sie hatte den ganzen Tag schon nachgedacht, war hin und hergerissen zwischen einem komischen Gefühl des Sehnens und der Angst vor Strafe, wenn sie erwischt würde, wie sie etwas Unerlaubtes tat. Dann plötzlich überwog die Sehnsucht in ihrem Herzen alle Zweifel und sie ging leichten Schrittes weiter. Wieder stockte ihr Fuß, als sie am Stamm eines der silbrig belaubten Olivenbäume den jungen Mann lässig zurückgelehnt sitzen sah, auf einem Grashalm kauend. Elena wurde es ganz seltsam zumute und am liebsten wäre sie nun doch umgekehrt und den ganzen Weg zurückgerannt. Als aber ein strahlendes Lächeln das Gesicht des Jünglings erhellte und sie den sehnsüchtigenAusdruck in seinen Augen sah, kam sie doch, wie von unsichtbarer Macht getrieben, vorsichtig näher. Er klopfte auf das hohe Gras neben sich und sie nahm Platz. „Ich habe auf dich gewartet.“ Sagte er und sah sie intensiv an. Sie senkte den Blick auf ihre Hände, mit denen sie nervös eine Blume zerpflückte, die sie gerade abgebrochen hatte. Sie hatte keine Ahnung, wie sich ...
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