… Gesten, wie ein Bauer beim Hühnerscheuchen, jagte der Doktor Lena vor die Türe und schloß sie energisch vor ihrer Nase. Erst langsam sickerte die ganze Bedeutung des Geschehens in Lenas Sinn. Ihre Beine waren plötzlich wie Gummi, sie glitt an der Wand herunter und blieb in der Hocke mit in den Händen vergrabenem Gesicht sitzen. Ihre Gedanken überschlugen sich. Die ganze Sache war ihre Schuld! Durch ihren Trotz und ihren Leichtsinn hatte sie Retenu immer wieder in unmögliche Situationen gebracht, ja, ihn sogar fast getötet. Heiße Tränen quollen zwischen ihren Fingern hindurch und tropften auf das verschmutzte schwarze Kleid. Sie wußte nicht, wie lange sie so gekauert hatte, als sich die Türe endlich wieder öffnete. Zögernd erhob sich Lena, wischte sich die Tränen ab und schaute fragend in die gütigen Augen des Arztes. Er machte einen beruhigende Geste und sprach dann in langsamem Arabisch auf sie ein. Lena verstand, daß Retenu viel Blut verloren hatte und viel Ruhe brauchte, aber außer Gefahr war. Dankbar ergriff sie die Hand des Doktors doch dieser entzog sie ihr verlegen und verließ mit einem Lächeln und seiner Schwester im Gefolge das Hotel. Der Chauffeur saß an einem kleinen Tisch in der Ecke des Zimmers und sein dunkles Gesicht wirkte ebenso erleichtert, wie das von Lena. Er schob einen der Stühle neben das breite Hotelbett und bedeutete Lena, sich zu setzen. Dankend nickte sie ihm zu und sank schwer auf die Sitzgelegenheit. Sie blickte auf das Gesicht hinab, daß sie inzwischen nicht mehr missen wollte. Er war so blaß. Das wirre schwarze Haar betonte noch die Fahlheit seiner sonst so braunen Haut. Vorsichtig ergriff Lena seine Hand, die regungslos auf der Bettdecke lag. Sie strich ihm das Haar aus der Stirn und wunderte sich, wie weich es sich anfühlte. Sie merkte kaum, wie ihr die Tränen wieder aus den Augenwinkeln rannen und ihre Wangen benetzten. Schon dreimal war ihr Retenu zur Hilfe gekommen; zwei Mal hatte er sogar sein Leben für sie aufs Spiel gesetzt. Und - wie hatte sie es ihm bisher gedankt? Sie konnte nicht erwarten, daß er ihre anfänglichen Kapriolen verstand. Er konnte ja nichts dafür, daß man sie ihm zum Geschenk gemacht hatte. Und sie hatte sich nicht besser gegen ihre unerwünschten Gefühle im gegenüber zu wehren gewußt, als mit ungerechtfertigten Affronts gegen seine Person. Den einzigen Vorwurf, den sie ihm wirklich machen konnte war, daß er ihr die Freiheit nicht geschenkt hatte. …
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